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Beiträge zur Theorie  










Hartmut Krauss

Thesen zur Thematik des "guten Lebens" aus kritisch-materialistischer Sicht

I. Die subjekt-objekt-tätigkeitsdialektische Auflösung der Frage nach dem guten Leben

Die in der Tradition der antiken Philosophie aufgeworfene Frage nach der Konstitution des guten Lebens bildet einen, wenn nicht den zentralen Knotenpunkt in der historisch konstanten Reflexion der Menschen bezüglich ihrer Handlungsmöglichkeiten gegenüber der umgebenden Welt. Anthropologie und Ontologie, die Frage nach der Selbstbeschaffenheit des Menschen und die Frage nach der Qualität des Seins bzw. dialektisch formuliert: die Frage nach dem Status des Mensch-Welt-Verhältnisses findet hier einen vorzugsweisen synthetischen Klärungs- und Auseinandersetzungsort. Über welche subjektiven Voraussetzungen/Potenzen verfüge/n ich/wir als Teil der Gattung Mensch, um innerhalb einer objektiv-gesetzmäßig und partiell widerständig strukturierten Umwelt mit konkreten Anforderungsmerkmalen ein annäherungsweise optimales Leben führen zu können? Damit erweist sich die Frage nach dem guten Leben bei näherer Betrachtung als eine hochkomplexe Angelegenheit.(Sie entzieht sich aufgrund dieser komplexen Struktur den einzelwissenschaftlich- ganzheitszerstörenden Reflexionsroutinen.) Folglich sind ihre grundlegenden Implikationen systematisch offenzulegen, um zu einem angemessenen Diskurs zu gelangen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich folgende problemrelevanten Dimensionen unterscheiden:

1) Die anthropologische bzw. subjektwissenschaftliche Dimension. Die Frage nach der Beschaffenheit und dem Möglichkeitshorizonts des Subjekts der intendierten bzw. postulierten 'guten Lebensführung‘. Über welche realen und potentiellen Ressourcen für ein gutes Leben verfügen ihre adressierten Träger?

2) Die ontologische bzw. objektwissenschaftliche Dimension. Die Frage nach der natürlichen und gesellschaftlichen Beschaffenheit und dem objektiven Ermöglichungsgrund des guten Lebens im Hinblick auf a) die Qualität des Stoffwechsels mit der Natur, b) die Qualität des gesellschaftlichen Seins (zwischenmenschliche Lebensverhältnisse) und c) die Qualität sinngebender Bedeutungssysteme. Welche objektiven (natürlichen, gesellschaftlichen und geistig-kulturellen) Voraussetzungen sind für ein gutes Leben erforderlich?

3) Die intersubjektive bzw. interaktionswissenschaftliche Dimension. Im Unterschied zu atomistischen (individualistischen, subjektivistischen, solipsistischen etc.) Konzeptionen, die von der inadäquaten Setzung des 'vereinzelten Einzelnen‘ ausgehen, ist die Frage nach der Beschaffenheit der Beziehungs- und Verhältnissstrukturen zwischen Individuum und Sozium (Gemeinschaftsformen unterschiedlicher Modalität) als elementar für ein gutes Leben anzusehen. Welche zwischenmenschlichen Verkehrsformen sind Voraussetzung für ein gutes Leben?1

4) Die ethische bzw. moral- und werttheoretische Dimension. Die Frage nach der näheren Bestimmung des Attributs "gut". Ist "gut" subjektiv-hedonistisch/utilitaristisch zu definieren oder objektiv-ethisch (das "Gute" als das überindividuell bedeutsame "Wahre", "Vernünftige", "Gerechte", "Tugendhafte" etc.). In welchem Verhältnis stehen Glück und Gerechtigkeit zum guten Leben? In einem Konkurrenz-, Ergänzungs- bzw. Integrations oder einem Übereinstimmungsverhältnis?. Läßt sich "gut" nur vom Subjekt her, also subjektivistisch definieren2 oder existiert objektiv/überindividuell Gutes?

II. Das gute Leben als normativer Kern wirkungsmächtiger Weltanschauungen

Eine zentrale Wurzel für die stets wiederkehrende (omnihistorische) Frage nach dem guten Leben als herausragender Problemgegenstand bildet die menschliche Grunderfahrung des Widerspruchs zwischen dem Wollen des vollkommenen Glücks und der Begrenztheit der menschlichen Handlungsmöglichkeiten in und gegenüber der objektiven Realität. Zum menschlichen in-der-Welt-sein gehört demnach die ambivalente Doppelerfahrung von Glück und Leid, Gelingen und Mißlingen, Hoffnung und Enttäuschung etc. Die Erfüllung der subjektiven Wünsche hängt eben nicht nur vom eigenen Tun ab, sondern ebenso von äußeren Umständen und Geschehnissen. Entsprechend fragil und ungewiss ist das Verhältnis zwischen Zielsetzung und Zielerreichung. Aufgrund dieser Labilitäts- und Ungewissheitserfahrung sowie angesichts der ontischen Realität des Leids und Unglücks unterliegt die Frage nach dem guten Leben leicht einer pessimistischen "Bedeutungsverschiebung" hin zu der Frage "Hat das Leben überhaupt einen Sinn, wenn ein vollkommen glückliches Leben nicht zu erreichen ist?" (Wolf 1998, S. 35). In dieser pessimistisch verschobenen und gebrochenen Form liefert die Frage nach dem guten Leben eine Quelle für die Wirksamkeit metaphysischer/religiöser Deutungssysteme. Diese Deutungssysteme "spielen" mit der sinnhaften Überhöhung menschlichen Leids und Unglücks, indem sie dem Negativen "eine höhere Funktion innerhalb des Ganzen.(beimessen, H. K. ), zum Beispiel indem es einem göttlichen Plan dient oder sich in eine höhere Ordnung fügt. Auf diese Weise, durch seinen Anteil an einer höheren Ganzheit, kann man der menschlichen Existenz einen Wert zusprechen" (ebenda, S. 35f.). Mit der Herausbildung der monotheistischen Deutungssysteme und der Ausarbeitung ihrer wesensinhärenten Tröstungsfunktion okkupiert somit das Religiöse die Thematik des guten Lebens: Es kommt zur wirkungsmächtigen Installierung normativ detaillierter Modelle gottgefälliger Lebensführung mit absolutistischem Geltungsanspruch, die mit dem Versprechen "verziert" sind, den Weg zum "ewigen Seelenheil" zu weisen. In dem Maße, wie die Philosophie im sozialhistorischen Kontext der mittelalterlichen Prämoderne zur Magd der Theologie wird, unterliegt auch die Frage nach dem guten Leben dem geistig-kulturellen Joch religiöser Weltanschauung. Nur auf dem schmalen Terrain der europäischen Aufklärung, d. h. innerhalb der gebildeten Eliten Europas und Nordamerikas, wird das Deutungs- und Normierungsmonopol des Religiösen aufgebrochen und die Frage nach dem guten Leben im Anschluß an Locke und Kant radikal subjektiviert, d. h. der angeblichen Autonomie des Einzelnen anheimgestellt und zu einer reinen Geschmacksfrage hedonistisch/utilitaristisch orientierter Subjekte degradiert. Zwar mag damit die Thematik des guten Lebens am Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Zentrum der akademischen Philosophie verdrängt worden sein3, als zentraler Inhalt wirkungsmächtiger postaufklärerischer Weltanschauungssysteme bleibt sie aber konstant präsent. Das gilt insbesondere für die totalitären Ideologien und sich darauf gründenden Bewegungen des Stalinismus, des Nationalsozialismus und des heutigen Fundamentalismus. In diesen Varianten nimmt die Konzeption des guten Lebens in allen genannten Dimensionen die Form repressiv-antiemanzipatorischer bzw. antihumanistischer Lebensführungsmodelle an. Im stalinistischen Paradigma wird sinnhaftes/gelingendes Leben im Ethos des disziplinierten Parteisoldaten modelliert, der sich für die historische Mission der Arbeiterklasse, d. h. die totalitäre Machtsicherung der herrschenden Partei- und Staatsbürokratie aufopfert. Im nationalsozialistischen Paradigma ist gutes Leben ein Leben für die erbbiologische Reinhaltung und Weltherrschaftsmission der arisch-germanischen Herrenmenschenrasse. Im fundamentalistischen Paradigma ist das gute Leben als heiliger Ausrottungskrieg gegen die Ungläubigen bzw. die kulturelle Moderne konzipiert, das sich im Selbstmordattentat zugleich physisch negiert und sakral überhöht bzw. überbietet (ein gutes Leben erfordert ein paradiesfähiges Ende).Gemeinsam ist diesen totalitären Versionen des guten Lebens ein ausgeprägter Diskurs der individuellen Selbstaufopferung zugunsten einer geheiligten Mission, die im Wesenskern auf die Verteidigung einer rigiden, nämlich totalitären zwischenmenschlichen Herrschaftsordnung hinausläuft.

III. Leistung und Grenzen des atheistischen Aufklärungsmaterialismus

Als synthetischer Ort, an dem Menschenbilder, Gesellschaftskonzepte, Interaktionstheorien und Ethiken gebündelt aufeinander treffen, steht die Thematik des guten Lebens voll im Zentrum der "Schlacht um die Definition des Menschen" bzw. menschliche Beziehungen (Sartre). Die metaphysisch-religiösen Deutungssysteme und totalitären Ideologien (als gleichsam rechter Flügel dieser menschheitsgeschichtlichen Schlachtordnung) operieren systematisch-durchgängig mit unterschiedlichen Variationen eines pessimistischen Menschenbildes, einer herrschaftsverteidigenden Ontologie- und Gesellschaftsauffassung, einer untertänig-soldatischen Treuelehre als Klammer zwischen Individuum und Sozium sowie einer repressiv-autoritären (antiemanzipatorischen) Ethik. (Beispiele: christlich-kirchliche Sündenlehre, konservativer Rechtsislam, Konfuzianismus, Schopenhauer, Nietzsche, Spengler etc.). Nun gilt es, die inhaltlichen Konturen des linken (fortschrittlich-emanzipatorischen) Flügels dieser menschheitsbewegenden Auseinandersetzung in der Perspektive des guten Lebens zumindest grob zu skizzieren. Wenden wir uns deshalb zunächst in Anlehnung an Charles Taylor (1996) dem historischen Leistungsgefüge der radikalen europäischen Aufklärung zu:

Der atheistische Aufklärungsmaterialismus beruht auf folgenden kulturhistorischen Voraussetzungen:

1) Die im Renaissancehumanismus zum Ausdruck gebrachte Akzentuierung der poietischen (selbsterzeugenden und konstruktiven) Kräfte des Menschen als ein zur Selbstvervollkommnung fähiges Wesen in mehr oder minder expliziter Abhebung vom theozentrischen Weltbild und der darin enthaltenen Vorstellung vom Menschen als "Knecht Gottes."

2) Die neue weltlich-naturwissenschaftliche Verortung der Wahrheit im Modell des cartesianischen Rationalismus.

3) Die im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit einsetzende sukzessive Bejahung und Aufwertung des gewöhnlichen (Alltags-)Lebens, d. h. die zunehmende Relevanz der Diesseitsorientierung. Die Bejahung/Aufwertung des gewöhnlichen Lebens wird wesentlich durch die Reformation vorangetrieben, deren strömungsübergreifender Hauptgedanke in der Ablehnung vermittelnder Instanzen wie der Kirche oder der Heiligen besteht . Dadurch wird zum einen das profane Leben aufgewertet und zum anderen erhält die persönliche Bindung des Gläubigen einen herausragenden Stellenwert. Mit der Verwerfung des Klosterlebens wird das gewöhnliche Leben der Laien implizit geheiligt und als zentraler Ort der Erfüllung von Gottes Absicht ausgezeichnet.

4) Eine besondere Bedeutung besitzt die im Deismus vollzogene Subjektivierung der Moral. Nicht mehr die Vorsehung oder die Evidenz/Selbstoffenbarung der Seinsordnung steht im Mittelpunkt, sondern die ausschlaggebende Fragestellung betrifft nun das Subjekt. "Was hat das Subjekt an sich, wodurch es das Gute erkennt und liebt?" D. h.: Neben der Konstitution der Dinge müssen wir unsere eigene Subjektivität im Hinblick auf ihre Genese, Wesensstruktur und Möglichkeitsbedingungen erforschen. (Gutes Leben setzt demnach Selbsterkundung voraus.) Obwohl selbst noch im religiösen Diskurs befangen, vollzieht das deistische Denken somit einen radikalen Bruch gegenüber der orthodoxen Theologie, der wiederum den Vormarsch der atheistischen Aufklärung vorbereitet. Gott wird gelobt für sein Wohlwollen, das in der ineinandergreifenden Ordnung der Schöpfung zum Ausdruck kommt, in der jeder durch das Streben nach dem eigenen Wohl zugleich dem Wohl der anderen dient. In diesem Kontext entwickelt sich ein unabhängiger, glücksorientierter Begriff des Guten, der seine vormaligen theozentrischen Fesseln abgelegt hat. "Das Ausschlaggebende ist hier also, daß der Mensch im Brennpunkt steht. Es ist die Glückseligkeit des Menschen, auf die es wirklich ankommt in der Welt. Sie ist das Ziel der gewaltigen Anstrengungen Gottes" (S. 475f.). Die unüberwindbare Differenz zwischen den Zielen Gottes und den Zielen der Menschen, die in den traditionellen Religionsauffassungen stark betont wird , wird im Deismus zugunsten einer menschenzentrierten Einstellung zurückgenommen. Insbesondere ist der deistische Gott des Wohlwollens unvereinbar mit den hyperaugustinischen Anschauungen, die das moralische Unvermögen der sündigen Menschennatur herausstellen und in denen Gott als zorniger Bestrafer imponiert. Nach deistischer Überzeugung richte Gott nämlich außer der gehörigen Erfüllung ihres eigenen Wesens ( natürliche Begierden und Empfingungen) keine weiteren Forderungen an die Menschen, so dass sich Gottes Güte letztlich in seinem Streben nach dem menschlichen Wohl manifestiere. Was sich folglich in der deistischen Umdeutung des christlichen Diskurses zeigt, ist demnach die Nachwirkung zweier theologischer Entwicklungen, "nämlich der erasmischen Bestimmung von Gottes Güte im Sinne seiner Wohltätigkeit gegenüber der Menschheit und der hierarchiefeindlichen Bejahung des gewöhnlichen Lebens".

An die Stelle des Glaubens an Wunder bzw. die beständige wundertätige Intervention Gottes in den Lauf der menschlichen Welt, der in der traditionellen (katholischen ) Religion einen zentralen Stellenwert besitzt, nimmt die deistische Vorstellung, Gott plane die Dinge zum Wohle der Menschen, die Form eines Glaubens an die gute Ordnung der Natur an. Die Vorsehung spiegelt sich in dieser Sicht in der regelmäßig-ineinandergreifenden Einrichtung der Dinge. "Ausschlaggebend ist nun nicht mehr die Sündhaftigkeit der Welt, sondern die Vollkommenheit ihres Entwurfs" (S. 484).

Die neue moralische Gesinnung, die von den Mittelklassen Englands, Nordamerikas und Frankreichs nach außen und nach unten "ausgestrahlt" wird, ist in drei Hinsichten individualistisch: Sie postuliert Autonomie (vernunftsbegründete Eigenständigkeit und Befähigung zu freier Entscheidung); sie misst der (emotionalen) Selbsterkundung eine große Bedeutung zu; sie verknüpft ihre Auffassungen vom guten Leben generell mit einer Bindung durch persönliche Entscheidung. Entsprechend werden die Schutzrechte der Menschen in subjektivistischer und egalitärer Terminologie formuliert.

Zwar ist der Deismus zweifellos der erste Schritt hin zur atheistischen Aufklärung. Aber der Prozeß der "Säkularisierung" tritt nicht etwa in reiner und linearer Form auf. Zu unterscheiden ist z. B. zwischen dem Glauben an Gott und der formellen Ausübung einer religiösen Praxis. So war im ausgehenden 18. Jahrhundert, der Glanzzeit der Aufklärung, echter Atheismus eine seltene Erscheinung. Nach Ansicht von Taylor kann der Prozeß der Säkularisierung weder als zwangsläufiger Effekt der Industrialisierung noch der Ausbreitung von Wissenschaft und Bildung erklärt werden. Begreift man nämlich das "Zeitalter des Glaubens" als eine Epoche, in der alle überzeugenden Moralquellen auf Gott zurückführen, so besteht die entscheidende Veränderung darin, daß Gott nun allmählich entbehrlich wird für das Verständnis der geistig-moralischen Dimension des menschlichen Lebens. Bezüglich der Erklärung der Säkularisierung besteht damit die ausschlaggebende Fragestellung darin, wie diese neuen, von Gott unabhängigen/alternativen Moralquellen verfügbar geworden sind.

An die Stelle Gottes als generierende Moralbasis treten nun folgende inneren Kräfte der menschlichen Natur als moralische Ressourcen bzw. Quellen der Moralerkundung: Zum einen die rationalen Fähigkeiten des handelnden Subjekts, die Kompetenz zur vernünftigen Umwelt- und Selbstkontrolle4; zum anderen die Natur samt ihrer im Inneren der Menschen vernehmbaren Stimme. Der Aufklärungsmaterialismus und die Romantik erwiesen sich fortan als die beiden wirkungsmächtigen Ideenkonstellationen, die den Atheismus beförderten und formierten. Diese Denkrichtungen "rivalisieren miteinander, und die Spannung zwischen ihnen ist eines der beherrschenden Merkmale der modernen Kultur" (S. 564).



Bei näherer Betrachtung basiert der Diskurs der radikalen Aufklärung, dessen Inhalte im Wesentlichen die kulturelle 'Moderne‘ ausmachen, auf folgenden Grundprinzipien:

1) auf dem Ideal der selbstverantwortlichen Vernunft, das "organisch" mit dem Postulat der Freiheit von jeglicher Autorität verbunden ist und worauf die Würde des Menschen befestigt wird, und

2) auf dem utilitaristischen Axiom, wonach die Menschen danach streben, Glück/Lust zu maximieren und Unglück/Schmerzen zu minimieren.

Diese utilitaristische Grundauffassung5 schließt ein, daß (Wert-)Urteile über Richtig und Falsch etc. nicht mehr einer kosmischen Ordnung der Dinge oder einer Vorsehungsordnung entnommen werden können. Die Welt sowie die menschliche Natur werden als neutrale Gestaltungsbereiche angesehen, deren Kausalbeziehungen im Interesse der Erzielung des größten Glücksquantums genutzt werden müssen. Eine apriorische Festgelegtheit der menschlichen Subjektivität im Sinne einer Tendenz zum Guten oder Schlechten wird ausdrücklich verworfen. "‘Kein Individuum wird gut, keines böse geboren. Die Menschen sind entweder das eine oder das andere, je nachdem ob übereinstimmende oder widersprechende Interessen sie vereinigen oder trennen.' Dies sagt Helvetius und verwirft damit sowohl Shaftesburys moralischen Sinn als auch Rousseaus Glauben an die angeborene Güte" (S. 567). Der individuelle Mensch wird folglich nicht mehr als apriorisch bestimmtes, sondern als durch die biographisch relevant gewordenen (milieuspezifisch geprägten) Lebensumstände "gemachtes" Wesen betrachtet.

Anstatt auf transzendente Weise im Jenseits höhere glücksbringende Wesen zu suchen und sein Leben nach religiösen Vorschriften auszurichten, solle der Mensch die Natur studieren und die dabei gewonnenen Einsichten für die Erlangung seiner eigenen Glückseligkeit nutzen. Der atheistische Aufklärungsnaturalismus mit seiner Bejahung der Rechte der Natur (gegen die religiöse Sündenlehre) reklamiert somit die Übereinstimmung von Vernunft und Moral. Aus dieser Haltung heraus erfährt nun auch die schon deistisch angelegte Befürwortung des Glücksstrebens eine Steigerung in Gestalt der aufklärerischen Begeisterung für die Sinnlichkeit. Die Akzentuierung der sinnlichen Erfüllung als 'lebensbedeutsam', so Taylor, "scheint eine der unumkehrbaren Veränderungen zu sein, die von der radikalen Aufklärung herbeigeführt worden sind" (S.577).

Zudem resultiert aus dieser Koinzidenzauffassung der aufklärungstypische Glaube an die "automatische" Wohltätigkeit der Früchte rationalen Verstehens bzw. an die spontan-eigengesetzliche Moralwirkung "vernünftiger Erkenntnis". "Vom Fortschritt der Aufklärung", schreibt Holbach, "wollen wir alles erhoffen".

Als weiteres optimistisches Spezifikum des Aufklärungsdenkens ist hier der Glaube an eine potentielle zwischenmenschliche Interessenharmonie anzuführen. Demnach stünde in einer wohlgeordneten Welt die Glückseligkeit jedes Einzelnen mit der Glückseligkeit aller in Einklang , was ja implizierte, das jeder nur dort nach Glück streben würde, wo es zum allgemeinen Glück beitrüge. Auch wenn heute der von den Aufklärern gesehene enge Zusammenhang zwischen Wohlwollen und wissenschaftlicher Vernunft angesichts der kapitalistisch-profit-logischen Indienstnahme der Wissenschaften anachronistisch wirkt, so muss dennoch angesichts der Schrecken der im Namen der Religion exekutierten Greueltaten zwecks Aufrechterhaltung der Feudalordnung mit Taylor folgendes betont werden: "Indem die Utilitaristen der sinnlichen Lust und dem sinnlichen Schmerz besondere Bedeutung beilegten und alle verschiedenen Ordnungsauffassungen in Frage stellten, schufen sie zum erstenmal die Möglichkeit, die Linderung des Leidens der Menschen wie auch der Tiere ins Zentrum der anstehenden sozialen Probleme zu rücken. Das hat in der modernen Gesellschaft wahrhaft revolutionäre Auswirkungen gezeitigt und nicht nur unser Rechtssystem verwandelt, sondern den gesamten Bereich unserer Praktiken und Belange" (S. 581f.).

Im Brennpunkt der radikalen Aufklärung steht letztlich ein Vollkommenheitsbild des Menschen als "wahrer" Schnittpunkt von Natur und Vernunft, der sich vermittels des Einsatzes rationaler Denktätigkeit aus den Fallstricken traditionell geformter Verblendungen, Vorurteilen und Irrtümer zu befreien weiß, um sodann den eigenen natürlichen Kräften Folge zu leisten und sich entsprechend "höher" zu entwickeln. Dieses optimistisch-heroische Menschenbild entspricht "organisch" dem menschheitsgeschichtlichen Fortschrittsdeterminismus, den das Aufklärungsdenken in so triumphalistischer Manier hervorgebracht hat. "Trotz aller Anstrengungen der Tyrannei, trotz der Gewalt und der Listen der Priesterherrschaft, trotz der Wachsamkeit und Mühe aller Feinde des Menschengeschlechts wird es der Menschheit gelingen, zur Aufklärung zu gelangen. Die Völker werden ihre wahren Interessen kennen. Eine Vielzahl von Strahlen wird eines Tages in gebündelter Form eine grenzenlose Lichtmenge bilden, die alle Herzen erwärmt und alle Geister aufklärt" (Holbach zit.n. Taylor S. 617). Die Aufklärer begreifen sich selbst als antizipatorische Kettenglieder dieser Fortschrittsteleologie, denen von nachfolgenden Generationen Dankbarkeit und Verehrung entgegengebracht werden wird. Folglich wähnen sie sich in der Gewißheit ihres posthumen Ruhms, was die vielfachen Anrufungen der Nachwelt verständlich werden läßt.

Als zentrales Charakteristikum des radikalen Aufklärungsdenkens ist aber auch das folgende "ethische Paradoxon" herauszustellen: Zwar sind die Lehren der Aufklärung umfassend moralisch motiviert (Natur als Normativ; Vernunft, Freiheit, Wohlwollen als Ideal; unbeschränktes Streben nach privatem Glück und sinnlicher Erfüllung etc.), aber aufgrund der Beschaffenheit der Basistheoreme (Reduzierung der menschlichen Lebens samt der Moral auf physikalische Gesetze; monokausale Zurückführung aller menschlichen Motive auf Lust; Konfundierung sämtlicher Theorien über "höhere" oder "spirituelle" menschliche Bestrebungen mit Religion/Metaphysik) ist eine explizite Formulierung der moralischen Dimension als eigenständiger Bereich in ihrem Diskursrahmen nicht zugelassen. Damit wird der Raum der von Taylor als "stark" bezeichneten Wertung preisgegeben, "der sich der Einsicht verdankt, dass bestimmte Ziele oder Zwecksetzungen Ansprüche an uns stellen und mit unseren sonstigen Wünschen und Absichten nicht kommensurabel sind" (S. 583). Ihre reduktionistische Ontologie hindert die Aufklärer daran, die eigenen impliziten Moralquellen zu formulieren und anzuerkennen. Es ist deshalb typisch für das Aufklärungsdenken, aus der Not eine Tugend zu machen und die Unterscheidung zwischen moralischen und nichtmoralischen Gütern abzuschaffen sowie alle menschlichen Wünsche wertungsbezogen zu nivellieren. Aufgrund ihrer physikalistischen und hedonistischen Begrifflichkeit berauben sich die utilitaristischen Aufklärer der Möglichkeit, ihre moralischen Beweggründe explizit zu formulieren und zu reflektieren. Insofern ist das Aufklärungsdenken auch gewissermaßen wehrlos der Gefahr ausgesetzt, von seinen eigenen materialistischen, naturalistischen, utilitaristischen, individualistischen etc. Grundlagen her im Sinne eines Materialismus der egoistischen Genußsucht/Lüsternheit unterminiert und desartikuliert zu werden, der eine implizite Unterscheidung zwischen Tugend und Laster verwirft. So verdeutlicht das Auftreten des Marquis de Sade nach Taylors Ansicht die Unverzichtbarkeit eines expliziten moralischen Hintergrunds starker Wertungen für die Ausgestaltung eines überzeugungsfähigen humanistischen Aufklärungsdiskurses. "Die bloße Übernahme einer Form von Materialismus reicht nicht aus, um die ganze Ethik des utilitaristischen Wohlwollens hervorzubringen. man benötigt auch eine gewisse Hintergrundkenntnis dessen, was der starken Wertung würdig ist" (S. 589). Daraus wäre folglich das Desiderat eines ethischen Materialismus abzuleiten, der den Widerspruch zwischen reduktionistischer Seinsauffassung und moralischem Impetus aufzuheben in der Lage wäre.

Ein Ausdruck für die Selbstverschleierung der impliziten Moralquellen durch den radikalen Aufklärungsmaterialismus ist die kompensatorische Bedeutung, die der Einnahme einer "hyperpolemischen Oppositionsrolle" zukommt. (Ein Paradebeispiel hierfür sei, so Taylor, der Marxismus). Dabei verhält sich der radikale Aufklärungsdiskurs in doppelter Weise parasitär: Einerseits benötigt er den attackierten Gegner auch als Objekt einer kompensatorischen Ersatzhandlung, um die eigenen Moralquellen auf diesem "Umweg" in negativistischer Form zum Ausdruck zu bringen und am Leben zu erhalten. Zum anderen nährt sich die polemische Anklage unausgesprochen aus einem vorgegebenen Wertehorizont, der populistisch ausnutzt wird, ohne ihn angemessen zu reflektieren. D. h.: Die klassisch-utilitaristische Aufklärung sowie einige Varianten ihrer vermeintlichen Nachfolger benötigen nicht nur Feinde, um ihre kompensatorische Polemik zu verwirklichen, sondern sie übernehmen auch unreflektiert konventionelle moralische Idealvorstellungen, die von ihren Gegnern oftmals bereits besser artikuliert worden sind. Diese "hyperpolemische" Ausnutzung der vorgegeben Wertekultur funktioniert freilich nur im Rahmen der Einnahme einer Oppositionsrolle, während die Herrschenden/Gegner, wie im 18. Jahrhundert oder zur Zeit des Frühkapitalismus, evidente und massenhafte Repressionen ausübten und damit der konventionellen Moral flagrant zuwider handelten. Doch mit dem Übergang von der Opposition zur Regierungsmacht und der damit gesetzten Anforderung des Aufbaus einer neuen Ordnung hat die utilitaristische Einstellung nach Taylors Meinung bereits mehrfach gezeigt, wie dürftig und zugleich bedrohlich sie ist. Jetzt nämlich, wo es nicht mehr ausreicht zu sagen, wogegen man ist, offenbart sich ihr moralisches Vakuum als Unfähigkeit, einen neuen Wertehorizont abzustecken und inhaltlich zu füllen bzw. eine neue überzeugungsfähige Version des guten Lebens zu formulieren. Seine Bedrohlichkeit und destruktive Wirkung wiederum hat der "Utilitarismus an der Macht" in Form der neuzeitlichen Konsequenzen seiner bürokratischen Rationalität unter Beweis gestellt "von der englischen Armengesetzgebung des Jahres 1834 bis zur Katastrophe von Tschernobyl" (S. 596).

Dennoch bleibt als herausragende kulturhistorische Leistung des Aufklärungsdenkens folgendes festzuhalten: Was nun allmählich zur Geltung gebracht wird und als "moralische Gebietseroberung" bezeichnet werden könnte, ist der Protest gegen die traditionell-religiöse Verleumdung der Natur im Namen der Natur. Es geht um die vorbehaltlose Anerkennung der Würde, der Kraft und der positiven Werthaltigkeit des Begehrens als menschliches Gut. Vermittels dieser Anerkennung der Güte des menschlichen Begehrens gewinnt und potenziert das moderne Subjekt seine bislang gefesselte Kraft und Antriebsenergie für die zukünftige Welt- und Selbstveränderung. "Diese Ablehnung/Freisetzung hat zwei Seiten: die Negation von Religion und Metaphysik und die Bejahung der Güte und Bedeutsamkeit der Natur" (S. 601). Während die utilitaristische Richtung der Aufklärungsnaturalismus begrifflich-theoretisch in der Negation befangen bleibt und der revolutionäre Impuls sich einseitig auf das Streben nach Zerstörung der verhassten traditionellen Ordnung richtet, schlagen einige Stränge des Naturalismus einen anderen Kurs ein, der letztlich zu einer "romantischen" Vereinigung von Naturalismus und Expressivismus führen wird. Holbachs anticartesianisches (ganzheitliches) Bild der Natur als Wirkungsfeld miteinander verbundener autopietischer Kräfte, worin der denkende Mensch als Teil dieser gewaltigen physischen Ordnung gesehen wird, kann auch als Quelle der Ehrfurcht und Bewunderung der Natur wirken und folglich protoromantische Diskurse "anstoßen".

IV. Marx' und Engels' emanzipatorisches Projekt als Metatheorie des guten Lebens

Als Errungenschaften der Aufklärung lassen sich demnach die konsequente Delegitimierung der prämodernen, religiös-absolutistischen Herrschaftsverhältnisse und die damit untrennbar verbundene Artikulation allgemeinmenschlicher sozial- und subjektemanzipatorischer Ansprüche und Zielsetzungen anführen (kulturelle Moderne). Ihre Grenzen liegen in der mangelnden Reflexion moralischer Güter als fundierende Inspirationsquellen des guten Lebens sowie in der fortschrittsdeterministischen Verkennung der herrschaftsreproduzierenden Strukturmerkmale der sich entwickelnden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die einem guten Leben entgegenstehen. So entfaltet sich fortan mit der Etablierung des Bürgertums als herrschendes Subjekt der Widerspruch zwischen den bürgerlich-revolutionären 'Gründeridealen‘ und der kapitalistisch werdenden Wirklichkeit mit ihren spezifischen Antagonismen, sozialen Verwerfungen, antinomischen Strukturen und Krisen. Vor diesem sozialhistorischen und ideengeschichtlichen Hintergrund treten Marx und Engels mit ihrem Lebenswerk das dialektisch-kritische Erbe der bürgerlich-emanzipatorischen Ideenformation an, die der 'kulturellen Moderne‘ zugrunde liegt. Sie halten einerseits an der antifeudal-revolutionären Ursprungsperspektive der allgemeinen "menschlichen Emanzipation" als Realisierung von dialektisch vermittelter individueller und gesellschaftlicher Befreiung fest und weisen andererseits die strukturelle Gegensätzlichkeit zwischen emanzipatorischer Zielsetzung und realer (herrschaftsförmiger) Beschaffenheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach. In diesem Sinne setzt die Verwirklichung der noch uneingelösten emanzipatorischen Intentionen die Herausbildung einer neuen revolutionären Bewegung voraus, um die dem bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftssystem innewohnenden emanzipationswidrigen Herrschaftsverhältnisse, Entfremdungsformen, Antagonismen etc. zu überwinden. "Ziel dieser revolutionären Umwälzung ist die über die Begrenzungen der bürgerlich-politischen Emanzipation hinausgetriebene menschliche Emanzipation, die Errichtung einer solidarischen Gesellschaft freier Individuen, eine menschliche und menschheitliche Weltgesellschaft" (Schmied-Kowarzik 1999, S. 112).

Als dialektisch-kritische Erbin ist die Theorie von Marx und Engels demnach fest im westlich-abendländischen Konzept der 'kulturellen Moderne‘ verankert. D. h. aber auch: Marx und Engels sind nicht einfach "Fortsetzer der Aufklärung"6, sondern insbesondere auch ihre radikalen Kritiker. So entlarven sie die heroischen Illusionen der bürgerlichen Revolution, insbesondere die aufklärerische Gleichsetzung zwischen allgemeinmenschlicher und bürgerlicher Subjektivität. "Welch kolosssale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität - in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen. und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen" (MEW 2, S. 129). Die Kritik der Verkleidung des bürgerlichen Interesses durch die allgemeinmenschliche Idee impliziert zugleich die Überwindung der eindimensionalen Bestimmung der 'Vernunft‘ als 'instrumentelle Vernunft‘, d. h. als Klassenvernunft des bürgerlichen Besitzindividualismus bzw. des atomistischen Profitstrebens und damit den Aufweis der Möglichkeit eines alternativen, kritisch-humanistischen Gebrauchs der Vernunft. 'Kritik‘ als alternative menschliche Praxisform ist in diesem Sinne zu bestimmen als ganzheitliche "wirkliche menschliche Tätigkeit von Individuen, die werktätige Glieder der Gesellschaft sind, die als Menschen leiden, fühlen, denken und handeln" (ebenda, S. 162) und folglich auf der Grundlage eines begreifenden Erkennens und Bewertens der Ursachen der gesellschaftlichen Mißstände zur Überzeugung einer eingreifenden gesellschaftsverändernden Praxis gelangen.

Marx bemängelt aber auch die praktisch unzureichende Überwindung des Religiösen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wenn er in seiner Frühschrift "Zur Judenfrage" die Nichtratifizierung der Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten kritisiert. Zudem ist Marx auch kein undistanzierter Parteigänger des aufklärerischen hedonistisch-utilitaristischen Glücksstrebens, sondern expliziter Protagonist einer an den anthropologisch fundierten Wertmaßstäben der zwischenmenschlichen Herrschaftsfreiheit und der dadurch begründeten revolutionär-humanistischen Gesellschaftsmoral ausgerichteten Leitidee. Die Kritik der Religion führt für ihn nicht zur allgemeinen De-Moralisierung bzw. zum ethischen Relativismus oder aber zum wissenschaftlichen Antihumanismus, also zur vielfach beschworenen ethischen/moralischen Enthauptung der Menschheit, sondern endet für ihn "mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (MEW 1, S. 385). D. h. Marx sieht den zu menschenwürdiger Daseinsgestaltung befreiten Menschen im Hinblick auf seine emanzipatorischen Gattungspotenzen nicht lediglich als Subjekt von Begierden an, sondern als praktisch-kritisch tätiges Subjekt mit der Kompetenz zur Herstellung, Verteidigung und Bewahrung von herrschaftsfreier zwischenmenschlicher Entwicklungsmöglichkeit, d. h. als moralisch durch ein konstitutives Gut inspiriertes Wesen.

In dieser Perspektive erweist sich Marx‘ kategorischer Imperativ als metatheoretisches Grundprinzip des guten Lebens, das sich zugleich in doppelter Radikalität sowohl gegen den prämodern-religiösen (der Mensch als Knecht Gottes) als auch gegen den modern-kapitalistischen Herrschaftsanspruch (der Mensch als Knecht der Wertgesetzes) richtet und zugleich ein universelles moralisches Gut darstellt.

In negativ-kritischer Hinsicht artikuliert der kategorische Imperativ zugleich die Unmöglichkeit eines herrschaftlich verfassten guten Lebens auf Kosten anderer, d. h. auf der Basis von Ausbeutung, Entrechtung, Unterdrückung und Entmündigung. (Es gibt kein richtiges Leben im falschen/Adorno.) Ein scheinbar gutes Leben im Rahmen einer antagonistisch-herrschaftlichen Sozialordnung führt nämlich nicht nur zur bedrohlichen De-Moralisierung der Beherrschten in Gestalt der Erzeugung von blindem Hass, Neid, Kriminalität, Unwissenheit, physischer und psychischer Verelendung, kultureller Bilderstürmerei und Selbstdestruktivität etc., sondern ebenso zur widerspruchsverschärfenden De-Zivilisierung der Herrschenden in Form der Verachtung der Beherrschten, der Herausbildung antihumanistisch-nihilistischer Welt- und Menschenbilder, der Erzeugung unwahrer Legitimationsideologien, der Hervorbringung menschenverachtender Repressionspraktiken und der parasitären Setzung von Aneignungs- und Entwicklungsblockaden.

In diesem Kontext ist auch an Ludwig Feuerbachs Betonung der wirkungsfunktionalen Korrespondenz von Glücksstreben und Gewissen zu erinnern:

" Mein Gewissen ist nichts anderes, als mein an die Stelle des verletzten Du sich setzendes Ich, nichts anderes als der Stellvertreter der Glückseligkeit des Anderen auf Grund und Geheiß des eigenen Glückseligkeitstriebes ... Das Gewissen hängt daher aufs innigste mit dem Mitleid zusammen und beruht auf der Empfindung oder Überzeugung von der Wahrheit des Satzes: was du nicht wünschest, daß dir die Anderen thun, das thue ihnen nicht! Ja es ist selbst nichts anderes als das Mitleid, aber mit dem Stachel des Bewusstseins, der Urheber des Leids zu sein. Wer keinen Glückseligkeitstrieb hat, weiß nicht und fühlt nicht, was Unglück ist, hat also kein Mitleid mit Unglücklichen; und wer kein verdoppeltes, verschärftes, gesteigertes Mitleid empfindet, wenn er sich bewusst ist, den anderen unglücklich gemacht zu haben, der hat kein Gewissen. Nur weil ich mir aufgrund meines Glückseligkeitstriebes bewusst bin, dass ich den Anderen bitterböse wäre, wenn er mir das Übel angethan hätte, das ich ihm angethan habe, sehe ich ein, wenn ich zur Besinnung, zum Nachdenken über mein Thun komme, daß ich Unrecht gethan habe, daß ich alle Ursache habe, mir selbst bitterböse zu sein, ... weil ich den wohlberechtigten Glückseligkeitstrieb des Anderen thörichter und frevelhafter verletzt habe" (zit n. Höffe 2002, S. 297f.).

Basiert nicht die Kultur der Herrschenden (insbesondere die der spätbürgerlichen Dekadenz) letztlich auf der formal-ästhetisierenden Austreibung, Verdrängung, letztlich scheiternden Unsichtbarmachnug dieser Korrespondenz von herrschaftsparasitär deformiertem guten Leben und Gewissen?

De facto ist die 'kulturelle Moderne‘ als progressives Sozialerbeheute - einschließlich ihrer dialektisch-kritischen "Aufbewahrung" in Form der Marxschen Theorie - einem konzentrischen Vernichtungsangriff aus entgegengesetzten Richtungen ausgesetzt. Marktradikale Neoliberale mit ihrer Vergötzung anarchisch-destruktiver Wirtschaftsmechanismen als "kreative Zerstörung", Wiederbeschwörer konservativer Wertorientierungen mit ihrem Streben nach Reinstallierung einer entmündigenden Untertanen- und Gehorsamskultur, postmodernistische Zeitgeistmonteure mit ihrer fadenscheinigen Sabotage kritisch-wissenschaftlicher Denk- und Analysemethoden, religiöse Fundamentalisten mit ihrer neototalitären Verteufelung der menschlichen Emanzipation und eben auch poststalinistische Linke mit ihrer verbildeten, einfach-negatorischen und pseudofortschrittlichen Anti-Haltung im Sinne eines "entmodernisierten" Radikalismus bilden eine Gemengelage geistig-moralischer Destruktivkräfte, die einer Neuaneignung sozial- und subjektemanzipatorischer Perspektiven auf jeweils spezifische Art entgegenstehen.

Betrachtet man die Konstitution der kapitalistischen Spätmoderne, wie sie heute die Lebensführung der Menschen in den entwickelten Ländern des Westens bestimmt, dann zeigt sich folgendes Bild:

Das den "stummen" Systemzwängen unterworfene 'Subjekt‘ sieht sich hier einer multidimensionalen Zerreißprobe voller Ambivalenzen ausgesetzt, die im vorliegenden Kontext nur kurz umrissen werden kann:

a) Einerseits hat es die auf "Kurzfristigkeit", "Beschleunigung" und "Flexibilität" ausgerichteten Anforderungen des postfordistisch umformierten Arbeitsprozesses zu erfüllen; andererseits soll es der auf "Langfristigkeit" und "Stabilität" setzenden Logik des Aufbaus und der Aufrechterhaltung privater Beziehungen (Ehe, Familie, Partnerschaft, Freundeskreis etc.) Folge leisten (zeitlogischer Widerspruch).

b) Während den postfordistisch "zergesellschafteteten" Individuen eine neue "Risikotoleranz" abverlangt wird, nämlich die Bereitschaft, am Rande des sozialen Abgrunds zu leben und einen weitgehenden Verzicht auf die Generierung von halbwegs abgesicherten Zukunftsperspektiven auszuhalten, wird gleichzeitig die Erfahrung des Scheiterns in einer Konkurrenzgesellschaft, die massenhaft Verlierer erzeugt, tabuisiert und desartikuliert.

c) Einerseits hat vermittels der Ausdehnung und Effektivierung der massenmedialen und informationstechnologischen Durchdringung der Lebenswelt (Multiplikation privater Rundfunk- und Fernsehsender, Internet, Teleshopping und -banking etc.) sowie der Schaffung neuer Einkaufszentren ("Konsumtempel") die Faszinationskraft des Distinktions- und Kompensationskonsumismus auf alle Klassen und Schichten gegenüber dem fordistischen Initiationsstadium noch zugenommen. Andererseits ist aber infolge der für den Postfordismus kennzeichnenden sozialen Verwerfungen (chronische Massenarbeitslosigkeit, neue Armut, zunehmender Wettbewerb um "knappe Güter") eine verschärfte Ungleichverteilung der konsumtiven Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten sowie der daraus resultierenden Konsummuster zu konstatieren (verschärfter Widerspruch zwischen "Anreizung" und "Ausschließung").

d) Auf der einen Seite steigt die Riskanz kapitalistisch bestimmter Lebenstätigkeit und führt so zu einer tendenziellen Überstrapazierung der psychischen Verarbeitungskapazität der "flexibilisierten" Menschen. Gleichzeitig aber ist aufgrund der Auszehrung von Lebenssinn und Orientierung vermittelnden gesellschaftlichen Bedeutungssystemen (konsistente Weltbilder, Wertordnungen etc.) ein wachsendes geistig-moralisches Vakuum zu konstatieren.

e) Nicht zuletzt wirkt natürlich der übergreifende Widerspruch zwischen der nach wie vor gültigen fremdbestimmten Moral des kapitalistisch-profitlogisch kommandierten Arbeitsprozesses einerseits und der ebenso fremdbestimmten, aber gegenläufigen hedonistischen Moral der konsumistischen Reproduktions- und Freizeitsphäre.

Noch verheerender ist es freilich für die Realisierung eines guten Lebens in den voraufklärerischen, prämodern-despotischen Herrschaftsordnungen außerhalb der westlichen Hemisphäre bestellt. Die dortigen sozialen Missstände, Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten sind keinesfalls im Sinne einer ideologisch konstruierten Monokausalität ausschließlich auf die imperialistisch-kolonialistischen Einflüsse des Westens zurückzuführen (wie es die bornierten Glaubensartikel der vulgärmarxistischen Altlinken suggerierten), sondern sind ganz wesentlich der eigenständigen Gestaltungskraft der dort relativ autonom wirksamen lokalen Herrschaftsstrukturen, Legitimationsideologien und Repressionsverhältnissen geschuldet. (Bei einem Großteil der Restlinken kann man den Eindruck haben, als hätte es ein vor- und 'außerkapitalistisches' Leiden nie gegeben, gäbe es nicht und dürfe es nicht - aus doktrinären Gründen - geben) "Solange hier das Feudalwesen und dort die Kastenordnung praktiziert werden", heißt es durchaus zutreffend in einem FAZ-Artikel (vom 16. Juli 2002, S. 7), "wird sich an den miserablen Zuständen wenig ändern. Weil 'die da oben‘ wenig Interesse daran haben und oft auch noch die politischen Fäden ziehen. In Pakistan etwa verhindern die Großgrundbesitzer als Parlamentsabgeordnete nicht nur die Bodenreform, die sie entmachten würde, sondern auch die Schulbildung für die Kinder ihrer Pächter und Landarbeiter. Sie verhindern den Bau von Schulen, sie belohnen Lehrer, die dauerhaft den Unterricht schwänzen." Oder aber, so ließe sich hinzufügen, sie fördern fundamentalistische Koranschulen, in denen der rasch anwachsende Bevölkerungsnachwuchs seine geistig-moralischen Potenzen und Talente nicht nur mit dem Auswendiglernen zutiefst veralteter Dogmen verschwendet, sondern darüber hinaus im Sinne einer mörderisch-totalitären Gegenaufklärung verhetzt wird.

Da die Frage nach dem guten Leben m. E. unausweichlich die Bejahung der Möglichkeit von begründbaren Werturteilen anhand von bestimmten Wertmaßstäben (Kriterien) impliziert, möchte ich abschließend als Fazit folgende kritisch-materialistischen Grundparameter eines guten Lebens anführen:

1) Entherrschaftlichung/Überwindung antagonistischer Produktions- und Sozialbeziehungen.

2) Entverdinglichung/Überwindung des Waren- und Konsumfetischismus.

3) Aufhebung der Entfremdung/ Überwindung der destruktiven (bzw. "sozialentropischen") Anarchie der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen der atomistischen Privatakteure).

4) Reharmonisierung der Mensch-Naturbeziehung/Überwindung der profitlogisch konstituierten Stoffwechselkrise.

5) Implementierung und Pflege einer in sich pluralistischen humanistischen Werte- und Bildungskultur in strikter Bekämpfung herrschaftlicher, verdinglichender, entfremdundgsfördernder, naturausbeuterischer ('anti-nachhaltiger‘) und antihumanistisch-gegenaufklärerischer Bedeutungssysteme.

Damit wäre eine Bedingungskonstellation geschaffen, die subjektseitig eine gelingende Lebensführung bzw. ein Höchstmaß an Lebenszufriedenheit zuließe; und zwar in Anbetracht der objektiven weitestgehenden Ausschaltung von sozialen Aggressions-, Haß und Neidauslösern (bzw. gesellschaftlichen Stimulatoren negativer Emotionalität). Freie individuelle Zielsetzung und gesellschaftlich optimierte Möglichkeiten der Zielerreichung im Rahmen einer chancengleichen Solidargemeinschaft wäre die Voraussetzung für die erweiterte Reproduktion einer emanzipatorischen Gesellschaft auf kulturell stets wachsender Stufenleiter.



© Hartmut Krauss, Osnabrück 2003

Anmerkungen:

1 In diesem Kontext gilt es eine adäquate Widerspruchslösung zu erreichen, die den diametralen Gegensatz zwischen dem bürgerlichen Individualismus ("Der Einzelne ist alles, die Anderen ein Greuel") und dem prämodernen/totalitärenKollektivismus (Der Einzelne als unselbständiges, entsubjektiviertes und entindividualisiertes Funktionsteilchen des totalitär-hierachischen Gemeinschaftsorganismus) progressiv überwindet.

2 "Ein Leben ist ... ein gutes Leben, wenn es uns das gibt, was wir von einem Leben wollen, oder: wenn es die Anforderungen, die wir an ein Leben stellen, erfüllt" (Stemmer 1998, S. 59).

3 Vgl. Steinfath 1998, S. 9.

4 Die Vernunftsfähigkeit des Menschen wird freilich bei Descartes, Locke, Kant u. a. noch in theistischer Perspektive als den Plänen Gottes entsprungene Bestimmung begriffen. "Aber insoweit die Quellen nun in uns liegen - genauer gesagt in bestimmten Kräften, die wir besitzen -, ist damit eine Grundlage gegeben für eine unabhängige, d. h. für eine nicht theistische Moralität" (S. 557).

5 "Der ausschließlich auf den Nutzen gerichtete Blick verspricht ein zielbewußteres Streben nach Glück. Und die desengagierte Vernunft soll die Hindernisse, die einer universellen und unvoreingenommenen Förderung des Wohlergehens im Weg stehen, ausräumen" (S. 569). Freilich formuliert z. B. Diderot eine Vernunftsauffassung, die primär kritisch-autonom und nicht instrumentell ausgerichtet ist (vgl. ebenda).

6 Marx unterscheidet zwei Richtungen des französischen Materialismus: Den cartesischen Materialismus, der in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft und die theoretische Grundlage für die instrumentalistisch-utilitaristische Praxis des bürgerlichen Profitstrebens bildet und jene Richtung, die den Materialismus als "die Lehre des realen Humanismus und als logische Basis des Kommunismus (MEW 2, S. 139) ausarbeitet (Fourier, die Babovisten, Cabet, Dezamy, Gay, Owen u. a.).

Literatur:

Höffe, Ottfried (Hrsg.): Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. München 2002, 3. Auflage.

MEW 1 und 2.

Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungn zur praktischen Philosophie. Würzburg 1999.

Steinfath, Holmer (Hrsg.): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Frankfurt am Main 1998, 2. Auflage.

Steinfath, Holmer: Einführung: Die Thematik des guten Lebens in der gegenwärtigen Diskussion. In. Steinfath 1998, S.7-31.

Stemmer, Peter: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben. In: Steinfath 1998, S.47-72.

Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main 1996 (2. Auflage).

Wolf, Ursula: Zur Struktur der Frage nach dem guten Leben. In: Steinfath 1998, S.32-46.












 

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